Im Gespräch mit dem Basler Pfarrer Martin Dürr, der am 10. September 2024 am Podium von "Anders weiter" im Zürcher Sihlcity spricht.
Was bedeutet «Anders weiter» für dich ganz persönlich? Mir steht mit der Pensionierung ein «Anders weiter» an. Ich mache mir immer wieder Gedanken darüber, was für mich das Wesentliche im Leben ist, wo ich mich engagieren will. Das Wichtigste ist für mich, dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das macht mir Freude.
Wenn du auf dein Leben zurückschaust – wo bist du «Anders weiter» gegangen? Als ich zum ersten Mal Vater wurde, wusste ich eines: Ich wollte nicht, dass meine Kinder so Angst vor ihrem Vater haben müssen, wie das bei mir der Fall war. Er stand beruflich unter Druck und wenn er einmal Zuhause war, explodierte er oft verbal. In jahrzehntelanger Therapie bearbeitete ich dieses Erbe und erkannte, wie ich es anders machen kann. Bewusst anders.
Gab es «Anders weiter» auch beruflich? Mein Pfarrleben bestimmten Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen, etwa als Seelsorger im Paraplegiker-Zentrum und im Gefängnis. Immer wieder gingen neue Horizonte auf. Kürzlich lernte ich einen Menschen kennen, der sich als non-binär bezeichnet. Bei unseren Gesprächen ging mir eine Welt auf. So versuche ich es mit allen Menschen, ich sehe das als andauernde Aufgabe, die immer wieder anders weiter geht. Für meine Pensionierung zum Beispiel mache ich kein Ehemaligenfest, sondern lade Menschen ein, die eine Rolle in meinem Leben spielten, um zu zeigen, dass es immer weitergeht und auch anders weitergehen kann.
Bei «Anders weiter» geht es darum, aufeinander zuzugehen. Wo würdest du dir gesellschaftlich ein «Anders weiter» wünschen? Ich wünschte mir mehr Dialog. Ich habe den Eindruck, wir schmeissen einander nur noch Parolen an den Kopf. Das führt uns nicht weiter. Mir fehlt das Bewusstsein für die weltweiten, drängenden Krisen. Während der Pandemie hoffte ich, es entstehe etwas Neues, als sich viele füreinander engagierten. Mir kommt unsere Gesellschaft wie ein Haus vor, das lauter Risse in den Mauern hat. Wir versuchen überall, diese Risse zu kitten. Doch das Fundament ist schief. Deshalb müssen wir uns auf unsere Werte besinnen.
Kirche und «Anders weiter» – ist dieser Zug nicht längst abgefahren? Es gibt eine Schwelle, in die Kirche zu kommen, ganz klar. Gleichwohl glaube ich, dass uns die Kirche immer noch anbieten kann, Gemeinschaft zu lernen. Und zwar nicht einfach in einer Bubble unter Gleichgesinnten. Abseits jeglicher Missionierung. Sondern um zu sich selbst und zu anderen zu kommen; sich zu öffnen. Viele fragen mich, warum der Glaube noch Relevanz habe und sagen mir, ein Gottesdienst sei nur noch Ballenberg. Die Menschen haben keine Beziehung mehr zur Kirche, deshalb muss die Kirche zu den Menschen gehen. Sie dort besuchen, wo sie sind. Denn der Mensch kommt erst, wenn er vertraut.
https://www.bildungswoche.ch/events/regionaltage
Verfasst von:
Thomas Stucki